Die Unkenrufe mehren sich: Die Stadt der Zukunft wird (größtenteils) ohne Individualverkehr auskommen. An seine Stelle werden zahlreiche neue Modelle der Fortbewegung treten, die bisher ein Schattendasein fristen oder sich noch in den Kinderschuhen befinden. Schon jetzt erproben die ersten Metropolen neue Konzepte, weil sie nicht mehr Herr über Staus und Abgase werden. Die europäischen Städte Berlin, Gent und Kopenhagen haben dazu erste Maßnahmen ergriffen – es wird sich zeigen, ob sie zukünftig Schule machen.
Berlin hat sich in den letzten Jahren zu einer zentralen europäische Metropole gemausert. Doch das brachte für die einstmals geteilte Stadt zahlreiche Probleme mit sich: Nicht nur, dass die Bevölkerungszahlen beständig zunehmen. Die Stadt wird zusätzlich Jahr für Jahr von mehr Touristen besucht, die alle Ecken der Metropole erkunden möchten. Staus auf Berlins Straßen sind normal, hinzu kommt die chronische Überfüllung des ÖPNV zu Stoßzeiten. Kurzfristig versuchen die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) diesen Ansturm mit Taktverdichtungen, Betriebszeiten-Erweiterungen und neuen Verbindungslinien abzufedern. Das ist aufgrund des Mangels an qualifizierten Fahrern jedoch nicht immer so einfach. Wichtig ist auch der U-Bahn-Ausbau, da er deutlich effizienter ist als andere Nahverkehrsmittel: Mit einer U-Bahn können so bis zu 700 Menschen befördert werden, ohne jeglichen Stau auf den Straßen zu verursachen. Busse oder Straßenbahnen schneiden da schlechter ab.
Aber auch das wird vermutlich nicht ausreichen. Aus diesem Grund möchten die Verkehrsbetriebe mit ihrer BVG-App mittelfristig zum allgemeinen Mobilitätsdienstleister für die Großstadt werden. In die bereits bestehende App sollen neben den aktuellen Fahrzeiten und Verbindungen auch andere Mobilitätsanbieter integriert werden. Ziel ist es, mit Car-Sharing, E-Bike-Verleih sowie möglicherweise fahrerlosen Kleinbussen ein engmaschiges Verbindungsnetz zu weben. Die Chancen stehen gut: Bereits heute nutzen 3,5 Millionen Menschen die BVG-App.
Die Stadt Gent hat sich für eine drastische Maßnahme entschieden: Dort dürfen neuerdings keine Autos mehr in die Innenstadt einfahren. Ausgenommen sind lediglich Krankenpfleger, Busse und Taxen. Alle anderen müssen draußen bleiben oder Strafe zahlen. Gleich 55 Euro verlangt die Stadt für die verbotene Einfahrt, die sie konsequent ahndet dank Videoüberwachung. Die Resultate ließen nicht lange auf sich warten: Die Autonutzung in Gent ist in der Folge um 12 Prozent gesunken, es gibt 25 Prozent mehr Radfahrer und der ÖPNV wird in der Rush Hour um ganze 28 Prozent häufiger genutzt. Auch die Luftqualität hat sich an 22 von 29 Messstellen deutlich verbessert.
Doch der Erlass zeitigte nicht nur positive Folgen: Nachdem nun niemand mehr in die Innenstadt einfahren darf, weicht ein großer Teil des Verkehrs auf den Stadtring aus. Dort kommt es nun noch stärker zu Staus und Verschmutzungen. Das Problem ist damit noch nicht endgültig gelöst.
Kopenhagen hat sich für den bisher krassesten Schnitt entschieden: Es hat die gesamte Innenstadt für Autos geschlossen und die frei werdenden Straßenflächen konsequent in Flaniermeilen und Radschnellwege umgewandelt. Natürlich profitiert Kopenhagen dabei von seiner geringen Größe, doch auch hier wurden spürbare Umsatzeinbußen vorhergesagt. Schließlich folgerte man, dass die Menschen ohne Auto gar nicht mehr in die Innenstadt fahren würden. Doch das Gegenteil trat ein: Der Umsatz der ansässigen Geschäfte nahm zu, da die Menschen sich wieder mehr Zeit für einen ausgiebigen Stadtbummel nehmen und nicht mehr sofort zu ihrem Auto zurückkehren.
Dieses System soll nun Schule machen: Die Initiative Eco Mobility World Festival möchte deswegen das Kopenhagener Modell in andere Städte bringen. Diese wird dann für einen Monat zur autofreien Stadt erklärt. Im Gegenzug werden für diesen Zeitraum provisorische Park and Ride Plätze am Stadtrand ausgezeichnet, der öffentliche Nahverkehr verdichtet und die Elektromobilität ausgeweitet. Letzteres geschieht über zeitlich begrenzte Leihstationen für E-Bikes, Pedelecs und E-Autos. In Pendlerstädten wie Johannesburg ist dieses Konzept bereits aufgegangen.
So einfach wie in Kopenhagen ist die Entwicklung in Deutschland weg vom eigenen Fahrzeug allerdings nicht. Hierzulande ist das eigene motorisierte Gefährt deutlich emotionaler aufgeladen. Es steht vielen für Freiheit, Individualität und Unabhängigkeit. Insbesondere Männer im Alter von 30 bis 55 Jahre legen in Deutschland etwa besonderen Wert auf Motorisierung und Komfort. Diese Bevölkerungsgruppe von alternativen Fortbewegungsmitteln zu überzeugen wird eine Herausforderung, der sich die deutsche Regierung vielleicht früher als gedacht stellen muss – wenn die Abgasgrenzwerte in deutschen Städten weiterhin deutlich überschritten werden.
Doch auch unabhängig davon benötigen die Deutschen Lösungen für die Mobilität der Zukunft. So belegen die aktuellen Stau-Indizes des Herstellers TomTom, dass der Verkehr in den deutschen Innenstädten von Jahr zu Jahr mehr Staus produziert. Traurige Spitzenreiter sind Stuttgart, Hamburg und Köln, doch Großstädte unterscheiden sich allgemein kaum voneinander. Überall gilt: Für Fahrten im Stadtgebiet sollte mindestens ein Drittel mehr Zeit für Staus und rote Ampeln eingeplant werden.